Nervenberuhigung im Gulag
Über das subjektive Erleben von Spielen
FARMVILLE: Anke beruhigt damit ihre Gefühle, Jan verfällt in völligen Stress. Das oft gescholtene Facebook-Spiel kann anscheinend beides.
Jan:
Am Anfang ist da Marie. Marie trägt einen Hut… und zeigt mir, wie man Tomaten pflanzt und erntet. Das ist nett, das ist harmlos… Wenn ich [die Tomaten] ernte, blinkt da alles Mögliche, ich bekomme ständig irgendwelche Belohnungen… Alles passiert gleichzeitig… Anfangs muss ich an Flipper denken… Anfangs ist FARMVILLE die Fortführung genau dieses Flipper-Prinzips: Viel zu viel für viel zu wenig.
Anke: FARMVILLE ist so ein typisches Frauenspiel, so ein Aufbauspiel. Du baust auf, Du pflanzt an. Eine Bäuerin bin ich da. Kannst Deinen Avatar schön zusammenbasteln, das erste was Spaß macht. Legst dann los [mit] Pflanzen, die Du anbauen kannst, Tieren, die Du züchten kannst, bzw. die Produkte liefern. Du kannst auch von Anfang an loslegen mit irgendwelchen Produkten, die Du irgendwie daraus erstellen kannst: Wolle, Milch, Kartoffelgratin oder Eiersalat oder sowas. Das kann man dann verkaufen und dadurch bist Du reicher. Du entwickelst Dich, kannst gewisse Aufgaben erfüllen, um Level höher zu steigen.
Jan:
Ich könnte meine Facebook-Freunde anbetteln. Die paar, die auch spielen, helfen mir schon, wo sie können, aber es sind nicht viele. Ich könnte auch diejenigen anbetteln, die nicht spielen. Ich könnte sie so lange nerven, bis sie mir geben, was ich will. Ich könnte meine ganze Timeline damit zuspammen.
Anke: Ein anderer Aspekt ist, Du misst Dich mit anderen. Obwohl, ich hab nur zwei bis drei mit denen ich mich messe. Du willst mit den anderen mithalten und ein bisschen Ehrgeiz entwickelt man da schon. Du hilfst auch auf Nachbarfarmen und befreundeten Farmen und kriegst dafür auch Punkte, Wasser, Futter, superdicke Früchte oder was auch immer. Man ist verbunden mit anderen. Wenn Du anderen was schenkst oder andere Dir was schenken, kommst Du weiter. Man fragt und kriegt was. Man muss fragen, wenn man was will und meistens kriegt man auch was, weil man anderen auch was gibt. Das beruht halt auf Geben und Nehmen.
Jan:
Dann irgendwann setzt der Rohstoffmangel ein. Manches […] muss ich unter Zeitdruck erledigen – manches davon ist schlicht unmöglich… [D]er Versager da… das bist Du… Ich könnte 24 Stunden am Tag FARMVILLE spielen. Ich könnte da sein, wenn meine Pflanzen reif werden und sofort neue pflanzen. Nachts zum Beispiel. Das würde den Leerlauf minimieren. Dann vielleicht, mit kluger Planung, könnte ich es schaffen… alle Aufträge in der vorgegebenen Zeit auszuführen.
Anke: Meine Farm ist sehr strukturiert. Alles hat seinen Platz. Das gibt bei unzufriedenen Charakteren, wie mir, ein Gefühl der Zufriedenheit: Wenn du alles geregelt hast, alles gefüttert hast, alles erstellt hast. Ich hab alles aufgeräumt, alles erreicht, alles strukturiert.
Jan:
Nichts gegen Herausforderungen. Aber wenn ein Spiel von mir etwas Unmögliches verlangt, finde ich das unhöflich. Ungehörig. Unnötig… Ich spiele trotzdem täglich. Ich passe die unterschiedlichen Erntezyklen meinen Wach- und Spielzeiten an. Ich versuche, so wenig Leerlauf wie möglich zu haben. Ich versuche zu unterscheiden, welche Gebäude wichtig sind und welche nicht. Ich versuche, Pläne zu entwerfen.
Anke: Das Spielgefühl ist, Du kannst selbst gestalten, ein sehr kreatives Spiel. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie du dich entwickeln kannst. Du kannst jetzt Schweinebauer werden oder mehr so auf Pflanzen setzen. Du kannst viel aushelfen. Es gibt viele Wege, die nach Rom führen. Ich bin hier die Chefin, ich schmeiß den Laden. Ich guck was los ist und kann selber gestalten. Mir sagt keiner, mir quatscht keiner dazwischen, keiner quatscht mir rein.
Jan:
Dann, vielleicht, mit kluger Planung, könnte ich es schaffen, das Spiel zu befrieden… Ich bin Frustration von Spielen gewöhnt… Der Unterschied ist, dass ich bei den meisten anderen Spielen etwas tun kann – ich selbst. Ich bin frustriert – aber ich kann daran arbeiten. FARMVILLE kann man nicht besiegen. Das ganze Spiel arbeitet gegen mich… die Spielmechanik […] verlangt zu viel von mir, aus meinem echten Leben. Mehr Zeit, mehr Geld, mehr Freundschaften, als ich investieren will. Und zwingt mich dadurch in Zwangsarbeit… Das Spiel belohnt mich damit, dass ich weniger spielen muss… Vielleicht gehe ich das Ganze zu verbissen an. Vielleicht nehme ich das alles zu ernst.
Anke: Das gibt einem ein gutes Gefühl […] wenn man denkt, wenn man nichts anderes in der Hand hat, aber da was in der Hand hat. Wenn Du jetzt im Leben nix in der Hand hast, aber dann solche Spiele spielst, fühlst Du Dich zufriedener. Ein Erfolgserlebnis, Kontrolle: Da kann ich das nachholen. Ich glaub, das ist so eine kleine Flucht. Also natürlich weiß ich, dass das ein Spiel ist. Aber Du hast ein gewisses Gefühl, dass Dich das zufrieden macht. Das Gefühl ist echt. Es gibt Leute, die haben so Spiele, da erfüllen sie sich irgendwelche Träume oder Gefühle, die sie in ihrem realen Leben nicht haben. Wenn ich diese Fähigkeiten im echten Leben hätte, wahrscheinlich würde ich andere Spiele spielen und nicht die in-den-Griff-krieg-, Aufbau-und-Aufräum-Spiele. Ganz ohne Spielen könnt ich gar nicht sein.
Jan:
“Das ist kein Spiel, das ist ein Gulag!”, schreie ich, spätnachts oder frühmorgens…
Anke: FARMVILLE ist nur so ein Nervenberuhiger, Gefühlsberuhiger und ja, man ist verbunden mit anderen.
Ankes Zitate entstammen einem Interview, das sie so freundlich war mir über FARMVILLE – das Spiel, das sie in letzter Zeit am meisten beschäftigt hat – zu geben. Jans Zitate entstammen dem Artikel “Meine kleine Farm, Notizen aus dem Arbeitslager” von Jan Fischer, WASD#5, S. 8–14, “Zwei Wochen Gulag”
Nice! Mehr davon. Looten & leveln!